«Das Kind muss seinen eigenen Willen oft ausprobieren.»
Jeder, der Kinder hat oder mit Kindern arbeitet, weiss, wie früh es für die Kinder sehr wichtig wird, Dinge selbst zu machen. Kinder zeigen eine beneidenswerte Geduld beim Versuch, etwas zu vollbringen, was die Erwachsenen viel schneller und besser für sie erledigen könnten. Und sie nehmen auch Misserfolge mehr oder weniger in Kauf, wenn sie es nur selbst ausprobieren können. Das tolle Gefühl beim Selbermachen nennt man Autonomiegefühl (Autonomie = Selbstständigkeit, Selbstbestimmung). Es handelt sich um das Gefühl, die Kontrolle über die Dinge zu haben und selbst bestimmen zu können (einen eigenen Willen zu haben). Ein Kind, das sehr viel selbst bestimmen und machen kann, wird dieses Gefühl ausbauen und kultivieren. Schränkt man ein Kind aber in seinem eigenen Willen zu sehr ein, so wird es ein schwieriges Verhältnis zu seinem eigenen Willen und seinen eigenen Ideen bekommen.
Trotzphase: wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung
Die erste grosse Auseinandersetzung zwischen den Eltern und dem Kind in diesem Punkt ist die sogenannte Trotzphase etwa im dritten Lebensjahr. Der eigene Wille des Kindes hat sich jetzt so stark entwickelt, dass er zu einem wichtigen Thema im Alltag geworden ist. Er bestimmt viele Dinge und mischt sich überall ein. Und das Kind muss diesen eigenen Willen auch oft ausprobieren. Dabei spielt NEIN-Sagen eine zentrale Rolle. Nur dabei spüren wir unseren eigenen Willen wirklich. Wenn wir etwas machen, das andere von uns verlangen, so sind wir nie ganz sicher, ob wir es wirklich auch selbst wollen oder ob wir es nur wegen der anderen tun. Wenn wir aber etwas verweigern, so wissen wir, dass das nur unser eigener Wille ist. Das Trotzen des Kindes ist also die einzige Möglichkeit, wirklich diesen eigenen Willen zu spüren.
Wenn die Eltern dieses zarte Pflänzchen des Autonomiegefühls immer wieder brechen, das Kind nicht selbst bestimmen lassen, sich über die Ideen des Kindes nur ärgern etc., wird das Kind in seiner Autonomie derart verunsichert werden, dass es starke Angst empfindet, wenn es die Kontrolle verlieren könnte. Jemand, der genug selbst bestimmen darf, kann auch besser damit umgehen, wenn er einmal über etwas nicht die Kontrolle hat. Er kann sich besser gehen lassen, kann sich anvertrauen und muss keine Angst haben vor Dingen, die vielleicht schief gehen könnten. Sein Ich wird stark und vertraut sich selbst. Demgegenüber entwickeln Kinder mit einer grossen Angst vor Autonomieverlust eher ein schwaches Ich mit geringem Selbstvertrauen.
Noemi Schönbächler, Gruppenleiterin Standort Cham
Photo by Alexander Dummer on Unsplash